Der deutsche Märchenwald, Part 2

Der deutsche Märchenwald

“es war einmal … ein Fotograf, der zu einem Hardcore – Waldausflug auszog. Nicht irgendwelche Haine wollte er bereisen, es sollten Figuren darin wohnen – mechanisch bewegt und sonderbar belebt.

So begegnete der mutige Zeitgenosse Hexen und Wölfen, Prinzessinnen und Fröschen. Ob er einen küsste, ist nicht überliefert”.

Auf der Suche nach Orten aus Kindheitserinnerungen hat sich der Fotograf Norbert Enker auf eine märchenhafte Reise durch Deutschland begeben und 45 Märchenwälder besucht, in denen Rotkäppchen,

Schneewittchen, Zwerge und böse Hexen Szenen aus ihren Märchenwelten nachstellen.

Der deutsche Märchenwald hatte seine große Ära in den Aufbaujahren im Nachkriegsdeutschland. Die szenische Darstellung von Märchen in garten- oder parkähnlichen Anlagen blickt inzwischen auf eine

über 100-jährige Geschichte zurück. Aber der Märchenwald ist nicht nur ein Relikt und altmodisches Freizeitvergnügen, tatsächlich existieren in Deutschland heute ca. noch 45 Märchenwälder.

In den Märchenwäldern spiegelt sich die einzigartige Beziehung der Deutschen zu ihrem Wald: Er ist ihre Sehnsuchts-Landschaft, ihr Symbol für Heimat und Romantik. Natürlichkeit und Ursprünglichkeit

hat der Wald weitgehend verloren, aber der Mythos bleibt.

“In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des

Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen“ schreibt 1960 Elias Canetti , Schriftsteller

und Aphoristiker deutscher Sprache in seinem Hauptwerk ‘Masse und Macht ’ (wikepedia.org/wiki/ Deutscher_Wald). Für uns ist der deutsche Wald immer noch romantisch, geheimnisvoll, verwunschen,

gespenstisch, majestätisch.

Dieses ‘Waldbewusstsein’ steht in einem engen Gefüge mit der emotionalen Welt deutscher Märchen und Sagen, die vom Leben, Lieben und Leiden, von Glück und Unglück und von Sehnsüchten und Träumen

erzählen. Vielen Märchen dient der Wald als Kulisse, meist ist er dann ein magischer, dunkler Ort, in dem Hexen, Zauberer und wilde Tiere ihr Unwesen treiben.

Und es geht in vielen Märchen ja nicht gerade zimperlich zu, im Gegenteil: da soll ein Junge geschlachtet und gekocht werden, ein Mädchen wird lebendigen Leibes von einem wilden Tier gefressen und eine

Frau vergiftet ihr Stiefkind. Wegen der Grausamkeit verbannten Eltern Märchen deshalb auch in den 1970-er Jahren aus der Kindererziehung. Zu Unrecht, meint der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, der

die Ansicht vertritt, dass Märchen Kindern helfen, „das Chaos in ihrem Unbewußten zu bewältigen” und dass das gute Ende eines Märchens, wenn die Helden „herrlich und in Freuden“ leben, den Optimismus

der kindlichen Zuhörer stärken und deshalb den „sicheren“ Erzählungen überlegen sind (vgl. Der Spiegel 10/1977, Märchen: Lebenshilfe für Kinder).

Norbert Enker wollte diese beiden grossen Motive deutscher Kultur, ‘Märchen’ und ‘Wald’ vereinen und hat sich auf eine fotografische Spurensuche gemacht. Sein Ziel war es, die Märchenwälder nicht zu verklären,

sondern als das würdigen, was sie für ihn und viele kleinen und grossen Kinder waren und sind: Orte von Kindheitserinnerungen, die darauf warten, wiederbelebt oder, um es in der Sprache der Märchen zu sagen:

wachgeküsst zu werden.