Grenzfall, Part 2

GRENZFALL - eine fotografische Spurensicherung

Eines der monströsesten Bauwerke deutscher Geschichte gibt es nicht mehr: Die Berliner Mauer. So fassungslos man damals ihrer Errichtung gegenüberstand, so ungläubig war man 1989 Zeuge ihres Verschwindens. Sie musste nicht die ihr von Erich Honecker prophezeiten 100 Jahre stehen. Die Berliner Mauer war plötzlich ohne größere Probleme zu überwinden. Sehr schnell war die Mauer, einmal zum Sturz freigegeben, zum Objekt marktwirtschaftlichen Geschäftsgeistes und folkloristischen Interesses geworden. Eine Flut von Touristen ergoss sich über den ehemaligen Todesstreifen. Der Handel mit Mauer-Souvenirs florierte. Man erwarb ein Stückchen des sogenannten antifaschistischen Schutzwalls und trug so ein originales Stück deutscher Geschichte als Andenken nach Hause.Ein riesiges Bebauungsgebiet quer durch Berlin war entstanden, offen für behutsame Stadtplanung, weitsichtige Konzernstrategien und brutale Spekulation gleichermaßen. Es war abzusehen, dass die Mauer, das Symbol deutsch-deutscher Trennung, sehr bald nur noch Geschichte sein würde, deren sichtbare Spuren in wenigen Jahren getilgt sein würden. Umso wichtiger erschien es Norbert Enker, diesen Prozess der Vernarbung einer geschichtlichen Wunde fotografisch aufzuzeichnen. Er hat schnell erkannt, dass dies ein für die deutsche Geschichte einzigartiges Ereignis war und für die Zukunft Deutschlands von großer symbolischer Bedeutung sein würde. Insofern betrachtete Enker seine Arbeit mit gutem Recht als eine fotografische und historische Spurensicherung.Norbert Enker hat mit dieser Arbeit kurz nach der Grenzöffnung, im Dezember 1989 begonnen. Bis März 1992 hat er die Veränderungen in diesem nun ehemaligen Grenzgebiet kontinuierlich mit der Kamera verfolgt. Uli Deimel

 

Es ergab sich eher zufällig und spontan, dass der Fotograf Norbert Enker am 1. Weihnachtstag 1989 von Damme nach Berlin aufbrach, im Gepäck seine heißgeliebte Mittelformatkamera ‚Plaubel Makina‘, 2-3 Handvoll Rollfilme und den Wohnungsschlüssel des Fotokollegen Grischa Rüschendorf aus Damme, der in Berlin wohnte und in den folgenden Monaten und Jahren ein sehr guter Freund werden sollte. Schnell trieb es ihn an die Berliner Mauer, die seit der Grenzöffnung im November 1989 zum internationalen Brennpunkt des politischen und zunehmend auch folkloristischen Interesses geworden war. Und er fing an, dieses von Tag zu Tag löcheriger und hinfälliger werdende Bollwerk des Kalten Krieges zu fotografieren. Noch hatte er nicht den Plan, aus dem Fall der Mauer ein langfristiges Fotoprojekt zu machen. Zurück in Essen und nach Durchsicht der Kontaktbögen, dem Ergebnis tagelanger fotografischer Wanderungen entlang der Berliner Grenze, wurde ihm bewusst, dass er es hier mit einem historischen Vorgang zu tun hatte, dessen greifbare Spuren wohl schon in kurzer Zeit getilgt sein würden. Und so machte er sich bereits Anfang Januar 1990 wieder auf den Weg nach Berlin, um sich von nun an intensiv diesem Thema zu widmen. Bis März 1992 hat er unzählige Reisen unternommen und die Veränderungen in diesem ehemaligen Grenzgebiet bis weit hinein in die Außenbezirke der Stadt kontinuierlich fotografiert. Norbert Enker